Renata
Coray und Dunya Acklin
Die Schweizer Sprachenvielfalt im öffentlichen Diskurs. Eine
soziohistorische Analyse
Der vorliegende Aufsatz präsentiert einige theoretische und methodologische Überlegungen bezüglich soziologischer Diskursanalyse an historischem Material – in diesem Falle an Material, das in einem Forschungsprojekt über die Schweizer Sprachenvielfalt im öffentlichen Diskurs von 1848 bis 1996 untersucht wurde. In einem ersten Teil werden diese Forschung und deren Ergebnisse vorgestellt; im zweiten Teil werden anhand von drei konkreten Beispielen folgende Fragen behandelt: Inwiefern kann das von Mitgliedern der Diskursgemeinschaften aus vergangenen Epochen geteilte Alltagswissen aufgrund einer qualitativen, induktiven Diskursanalyse erschlossen werden und welcher Status kommt dabei der historiografischen Literatur zu? – Es wird gezeigt, dass eine soziosemiotische Diskursanalyse von historischen Quellen dank Rückgriff auf bestehende historische und andere Fachliteratur ihre Resultate verifizieren, präzisieren und reinterpretieren kann. Sie stellt jedoch auch eine Bereicherung für die Historiografie dar, da sie neues – oder zumindest anderes – Licht auf historische Quellen zu werfen vermag.
Nikola
Tietze
Individualisierung und Pluralisierung im Islam der Diaspora. Muslimische
Religiositätsformen in Deutschland und Frankreich
Der Islam ist heute ein Teil der gesellschaftlichen Realität in Deutschland und Frankreich und wird im öffentlichen Raum als ein vielfältiges Phänomen sichtbar. Die Identifikation mit der islamischen Tradition ist von deutlichen Individualisierungsprozessen durchzogen. In dem Artikel, der die Selbstbeschreibungen junger Männer als Muslime in Deutschland und Frankreich zum zentralen Thema hat, werden vier Kategorien vorgeschlagen, um die Pluralität der Religiositätsformen in ihrer unterschiedlichen Logik zu erfassen: ein „ethisierter“, ein „utopisierte“, ein „ideologisierter“ und ein „kulturalisierter“ Islam. Die muslimischen Selbstthematisierungen spiegeln Subjektivitätskonstruktionen wider, in denen die religiöse Identifikation hilft, eine persönliche Autonomie zu erarbeiten. In einem zweiten Schritt werden die Gemeinschaftsbilder der jungen Muslime in Deutschland und Frankreich verglichen. Dabei wird deutlich, dass die Konstruktion einer islamisierten Erinnerung ein Auseinandersetzungsmodus mit der deutschen und französischen Gesellschaftsordnung darstellt. Die islamische Tradition wird dabei zu einer Ressource, um die eigene soziale Position am Rande der Gesellschaft zu konfliktualisieren, und um Widersprüche zu Bestandteilen des eigenen Ichs zu machen. Die individuell erarbeitete Islamität kann dadurch zu einer Trägerin der Forderung junger Leute nach Respekt in einem gesellschaftlichen und politischen Beziehungsgefüge werden, in dem sie sich marginalisiert fühlen.
Alexandra
Frosch/Klaus Holz
Die kulturelle Dimension der Integrationspolitik. Muslime und die britische
race relations politics
Die Konflikte um Muslime in Großbritannien sind nicht ausschließlich, aber wesentlich durch die Divergenz zwischen dem Selbstbild der Muslime und dem Fremdbild konstituiert, das sich die britische Integrationspolitik von ihnen macht. Die Muslime entwickeln ihr Selbstbild als religiöse Wir-Gruppe unter der Bedingung einer staatlichen Integrationspolitik, die nur rassische und nachgeordnet ethnische Gruppen anerkennt. Dadurch macht die muslimische Wir-Gruppe die Erfahrung, gerade in dem Aspekt, der ihre Identität definiert, nicht anerkannt zu werden. Dies bedeutet keineswegs nur eine kulturelle Deprivation für die Muslime. Da die Muslime dem kulturellen Muster nicht entsprechen, das die Integrationspolitik bestimmt, werden der muslimischen Gruppe als solcher wesentliche Minderheitenrechte und politische Partizipationsmöglichkeiten vorenthalten. Diese Divergenz wird für die britische race relations politics und die Formierung einer muslimischen Wir-Gruppe analysiert. Da der Begriff der Gruppen-Identität zwar vielfach verwendet, aber in diesem Forschungsgebiet nur unzureichend expliziert wurde, werden die empirischen Analysen durch ein allgemeines Konzept von Wir-Gruppen kulturtheoretisch fundiert.
Ute
Koch
”...aber wenn die Zigeuner weg sind und ich bin allein hier, kann ich mich
integrieren”: Biografische Transformation als Grenzgängertum
Anhand einer Fallanalyse eines Rom wird gezeigt, welche lebenspraktische Bedeutung der durch eine exklusive Zugehörigkeitsstruktur errichteten sozialen Grenzen für den Versuch der Etablierung eines eigenen Lebensplans zukommt. Der Beitrag zeigt, dass individuierte Lebensentwürfe eine Bedrohung darstellen, sowohl für die subjektive Zugehörigkeitskonstruktion als auch für die Verortung in den Familienzusammenhang. Die als Grenzgängertum bezeichnete Fallstruktur verweist auf die Unversöhnlichkeit und Nichtüberführbarkeit zweier sich ausschließender Lebenszusammenhänge. Dabei gerät eine Orientierung an den lebensperspektivischen Standarderwartungen der modernen Gesellschaft in einen kaum zu lösenden Konflikt zu einem tendenziell alle Lebensbereiche umfassenden Vergemeinschaftungsanspruch. Die Herauslösung aus dem sozialen Herkunftskontext scheint nur um den Preis des radikalen Bruchs überzeugend möglich zu sein.
Thomas
Reinhardt
Jenseits von Objekt und Objektivismus: Ethnologie in der Postmoderne
In den vergangenen zwei Dekaden sind zahlreiche geisteswissenschaftliche Disziplinen der postmodernen Herausforderung mit einer „anthropologischen Wende“ begegnet. Der Ethnologie selbst bleibt dieser Ausweg aus offensichtlichen Gründen versperrt. In Auseinandersetzung mit Till Försters Programm einer Konstituentenanalyse der ethnographischen Erfahrung wird hier das Modell einer Ethnologie des als ob vorgeschlagen, das die starre Subjekt-Objekt-Dichotomie der traditionellen Ethnographie aufhebt. An ihre Stelle wird eine dialogische Fundierung von Erkenntnis, Wahrheit und Welt gesetzt. Dabei wird nicht nur dem Subjektcharakter des ethnographischen Objektes Rechnung getragen, es wird auch ein Abgleiten in das von der Dekonstruktion betriebene freie Spiel der Signifikanten vermieden.
Till
Förster
Replik auf Reinhardt
Diese Replik auf den Diskussionsbeitrag von Thomas Reinhardt setzt sich kritisch mit dem Konzept der „dialogischen Ethnographie“ auseinander. Die dialogische Ethnographie stellt eine unzureichende Antwort auf das Problem der Repräsentation dar, ein wissenschaftlich konstruiertes Bild der fremden Gesellschaft zu zeichnen. Dieses Repräsentationsproblem kann nicht gelöst, nur bearbeitet werden. Hier plädiert der Beitrag noch einmal für eine „Konstitutionsanalyse ethnographischer Erfahrung“, die Reflexion des Prozesses, in dem sich ethnografische Erfahrung bildet.
Manfred
Max Bergman
Reliability and validity in interpretative research during the conceptualisation
of the research topic and data collection
In this paper is argued that quality concerns play a central role throughout all steps of the research process in qualitative methods, from the inception of a research question to the interpretation and discussion of research findings. The collection process is conceptually separated from the analytical process in order to discuss specific quality concerns as they relate to the conceptualisation of a research question and data collection during interviews and focus groups. Some forms of “bias” must be understood as meaning frames, without which it would not be possible to engage in empirical social science research. Other forms of “bias”, however, threaten the consistency and credibility, or the reliability and validity, of interpretative research. Whether the research community will coin its own terms or partially adopt or adapt those which currently exist is less important to the central thrust of this paper. Based on concrete examples from empirical research on interviews and focus groups it is aimed on stimulating a constructive discussion about the quality of interpretative research.
Thomas
Loer
Anlässlich einer verbreiteten Form der Kunstvermittlung. Hermeneutische
Marginalie zur Kulturindustrie
Die soziologische Miniatur zeigt an einem unscheinbaren Detail: der Ankündigung einer Tonbandführung in einem Kunstmuseum, wie sich Kulturindustrie im sogenannten ‘E-Bereichs’ der Kultur vollzieht. Mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik wird exemplarisch für gegenwärtigen Kulturbetrieb herausgearbeitet, dass in ihm weder die Sache der Kultur noch der Rezipient als autonomer gewürdigt wird. Dabei erweist sich die analytische Kraft der Kategorie der Kulturindustrie die – anders als der Terminus ‚Massenkultur‘ – auch gegenwärtige kulturelle Phänomene in ihrer Strukturiertheit aufschließt.