Bernt Schnettler
Auf dem Weg zu einer Soziologie visuellen Wissens
Vor dem Hintergrund der Bilddebatte diskutiert der Aufsatz die Möglichkeiten eines wissenssoziologischen Ansatzes zur Erforschung visuellen Wissens. Die Hauptmerkmale der Debatte um die Revolution der Bilder werden rekapituliert und anhand einiger Beispiele wird die Rolle der Visualisierung in der Wissensproduktion und der visuellen Verbreitung des Wissens verdeutlicht. Nachfolgend werden die bestehenden Desiderata auf dem Weg zu einer Soziologie visuellen Wissens erörtert. Abschließend wird eine Präzisierung des Begriffs des visuellen Wissens vorgeschlagen.
Schlagworte: Wissenssoziologie, Visualisierungen, Gattungsanalyse, iconic turn, Bildlichkeit und Schriftlichkeit
Christoph Ernst, Claudia Globisch
Die diagrammatische Repräsentation soziologischen Wissens
am Beispiel der Antisemitismusforschung
Diagramme gehören zum Standardinventar der Repräsentation abstrakter Wissensbestände, die hier vor dem Hintergrund einer pragmatistischen Theorie der Diagrammatik von C. S. Peirce analysiert werden. Eine prinzipielle Frontstellung von Schriftlichkeit und Bildlichkeit wird anhand der Untersuchung von Diagrammen als Medientyp und Zeichenklasse in einer Mittellage zwischen Text und Bild verneint. Diagramme repräsentieren häufig abstrakte Zusammenhänge von Funktionsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten und dienen dem „Sichtbarmachen des Unsichtbaren“. Diagramme sind somit weder Schriften noch Bilder, sondern stellen eine eigenständige Zeichenklasse dar, deren Stärke es ist, begrifflich erfasste Sachverhalte auf ihre Grundrelationen zu abstrahieren und bildlich zu repräsentieren. Diagramme sind als Repräsentationsformen für Wissen besonders effizient, wenn es um abstrakte Sachverhalte und um die Darstellung komplexer Funktionszusammenhänge mit synchronen und diachronen Faktoren geht. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit es zur Ausbildung eines spezifisch „diagrammatischen“ visuellen Wissens kommt. Hierzu wird die Theorie der Diagrammatik der semiopragmatischen Philosophie von Charles S. Peirce, die den pragmatischen Zeichengebrauch in den Mittelpunkt rückt, herangezogen. Das Analysemodell um fasst drei Ebenen: diagrammatische Strukturen, diagrammatische Referenzen und diagrammatische Schlüsse: Diagramme erlauben eine Kombination von Einblick und Überblick, reduzieren Komplexität und ermöglichen mit dem „diagrammatic reasoning“ abduktives Schlussfolgern. Die semiopragmatische Analyse wird an drei Diagrammbeispielen aus der Antisemitismusforschung exemplarisch vorgeführt. Es zeigt sich, dass diagrammatische Ordnungen des Wissens zwischen einer linearen und einer nicht-linearen Wissensrepräsentationsform changieren, denen eine zunehmend eigenständige Rolle in der Wissensproduktion zukommt.
Regine Herbrik, Tobias Röhl
Visuelle Kommunikationsstrategien im Zusammenspiel. Gestik im
Fantasy-Rollenspiel
Am Beispiel der Interpretation von Videodaten aus Pen-and-Paper-Rollenspielsitzun-gen wird deutlich gemacht, wie lautsprachliche und gestisch-visuelle Bestandteile der Kommunikation in Face-to-Face-Interaktionen zusammenwirken. Da sich der Sinn einer kommunikativen Handlung erst aus dem Zusammenspiel aller beteiligten Ebenen erschließt, profitiert die Erforschung der Face-to-Face-Interaktion von der Berücksichtigung der visuellen Ebene der Kommunikation. Gesten können dabei einem nichtsprachlichen, körperlichen Bereich des Wissens zugeordnet werden, der lediglich visuell vermittelt werden kann. Für die visuellen Kommunikationsformen im Rollenspiel sind mehrere spezifische Ambiguitäten kennzeichnend. Deutlich wird darüber hinaus die Besonderheit der Visualität: Gesten sind durch die Simultanität des Visuellen ökonomisch, legen die sichtbaren Beschreibungsmerkmale eines in Frage stehenden Objektes verbindlich fest, fungieren als „Gedankenspeicher“ und treten als „Präsenzeffekt“ (Gumbrecht) einer imaginierten Welt auf.
Schlagworte: Visuelle Soziologie, Gesten, Fantasy-Rollenspiel, Face-to-Face-Interak-tion, Kommunikation, Wissenssoziologie, Videoanalyse, sozialwissenschaftliche Hermeneutik
Jo Reichertz
Der marodierende Blick – Überlegungen zur Aneignung des Visuellen
Vor dem Hintergrund der medienwissenschaftlichen Theorie Vilém Flussers wird der Frage nach der Bedeutung des Bildes, insbesondere der Infographiken, für das Wissen nachgegangen. Infographiken dienen als Text-Bild-Kombinationen einer kondensierten Wissensvermittlung. Sie sind nicht nur ‚Medien der Darstellung’ sondern auch ‚Medien des Denkens’. Als solche verändern sie die Art der Wissensaneignung gegenüber dem gedruckten Wort grundlegend. Anders als beim Lesen eines Textes tastet das Auge des Betrachters sie nicht in einer festgelegten Sequenz ab, sondern simultan und holistisch. Sie befördern deshalb den ‚marodierenden‘ Blick. Dieser Blick wird mit Bezug zum diagrammatischen Zeichen und zur Abduktion bei Peirce als Produkt einer bestimmten Sehkultur und insofern als soziokulturell vorgeprägt verstanden. Die These des marodierenden Blickes betont die weitgehende Unabhängigkeit der je subjektiven Aneignungs- und Deutungswege vom Angeeigneten und Gedeuteten. Sorgfältige, wissenssoziologische Aneignungsstudien bildlicher Wissensrepräsentationen können deren Verfahrensweise aufdecken und die Bedeutung der Infographiken im Kampf der Aufmerksamkeitsökonomie aufzeigen. Somit wird eine Verschiebung in der Wissenschaft zur Werbung als Produkt und Ausdruck der sich aktuell rasant beschleunigenden Industrialisierung der Wissensproduktion und Wissensverteilung deutlich.
Schlagworte: Visuelles Wissen, Wissensaneignung, Infographiken, Abduktion, Sehkultur
Jürgen Raab
Die ‚Objektivität’ des Sehens als wissenssoziologisches Problem
Der Beitrag behandelt die „soziale Genese des Blicks“ und die soziologisch-genetischen Sinndeutung des Kunstwerks als wissenssoziologische Probleme der ‚Objektivität‘ des Sehens. Hierzu rekonstruiert der Autor die Bezüge von Kunstgeschichte und Wissenssoziologie zu ihrer Gründungszeit. Raab beleuchtet die Parallelen und Divergenzen in den theoretischen Entwürfen von Karl Mannheim, Erwin Panofsky und Pierre Bourdieu und verbindet diese Erörterungen mit der Frage nach der jeweiligen methodischen Umgangsweise mit den im Wahrnehmungsakt sich vollziehenden Prozessen der Sinnkonstitution. Um der gesteigerten Komplexität sowie den Paradoxien medialer Bildkommunikation und der sich entsprechend wandelnden Wahrnehmungsweisen gerecht zu werden, plädiert Raab für eine an Berger und Luckmann anschließende, phänomenologisch und hermeneutisch orientierte visuelle Wissenssoziologie.
Schlagworte:
Visuelle Soziologie, Wissenssoziologie, Bildhermeneutik, Karl Mannheim, Erwin
Panofsky, Pierre Bourdieu
Ulrich Oevermann
Implizite objektive Hermeneutik in der Hysterieanalyse als Paradigma für
Freuds Übergang von der Neurologie zur Psychoanalyse – Zugleich ein
professionalisierungsgeschichtlicher Befund
Der durch die Freud’sche Psychoanalyse bewirkte Paradigmenwechsel im Kanon der Erfahrungswissenschaften wird systematisch bestimmt im Hinblick auf die Selbsterkenntnis des Subjekts in seiner leiblichen Positionalität, das daraus resultierende notwendige Bedingungsverhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem und das daraus wiederum sich ergebende Problem der methodologischen Erschließbarkeit des Unbewussten im empirischen Datenmaterial. In diesem Licht erscheinen die auf den Rationalitätsbegriff sich konzentrierenden Handlungstheorien als vergleichsweise oberflächlich und unfähig, die maßgeblichen, durch unbewußte Dispositionen generierten Strukturen sozialer Prozesse zu erfassen. Freuds Leistung als Begründer der Psychoanalyse wird als durch den Habitus von Forschung und ärztlicher Praxis gewährleistete Kontinuität des Übergangs von herausragender neurologischer Forschung zu psychoanalytischer Forschung und Praxis rekonstruiert. Bei dem Bruch in diesem Übergang handelt es sich keineswegs um einen Bruch mit den Naturwissenschaften; er reduziert sich vielmehr auf die lebensgeschichtliche Kontingenz, dass Freud als Jude chancenlos war, einen Lehrstuhl für Neurophysiologie zu besetzen. Es wird an drei Schlüsselargumenten in den frühesten Schriften zur Psychoanalyse gezeigt, dass der mit der Behandlung und Erforschung der Hysterie sich vollziehende Übergang zur Psychoanalyse wesentlich auf Konstruktionen beruht, die als Vorgriffe auf die Methodologie der objektiven Hermeneutik gelten können. In dieser Betrachtung werden die Psychoanalyse zu einer sozialwissenschaftlichen Leitdisziplin und die objektive Hermeneutik zu einer methodologischen Basis der Psychoanalyse.
Schlagworte: Freud, objektive Hermeneutik, Psychoanalyse, Hysterie, objektiver Sinn von Symptomen, Professionalisierung.
Axel Jansen
Die Rolle der Wissenschaft als Profession für die nationalstaatliche
Konsolidierung. Rekonstruktion der Motive Alexander Dallas Baches für die Gründung
der amerikanischen Nationalakademie 1863
Warum wurde die amerikanische Nationalakademie (National Academy of Sciences) inmitten des Bürgerkrieges und in einer Zeit gegründet, in der der amerikanische Nationalstaat in seiner Existenz bedroht war? Die Analyse einer Auswahl von Dokumenten gibt Aufschluß über die Motive von Alexander Dallas Bache. Bache war Supterintendent der U.S. Coast Survey und führendes Mitglied der amerikanischen „Community of scientists“ in den 1850er Jahren. Bereits vor dem Krieg hatte Bache die Idee einer Nationalakademie mit engen Kollegen diskutiert. In der Forschung hat sich der Eindruck ergeben, dass der Bürgerkrieg und ein politisch gewogener Kongress Bache und seinen Kollegen nun eine Gelegenheit bot, diese Idee umzusetzen und damit auch ihre eigene Rolle zu stärken. Die Motivation Baches liegt aber, so zeigt die Deutung, in dem Wunsch, die Nation, die sich 1862 im Anschluss an mehrere militärische Niederlagen in einer Krise befand, durch die Gründung einer Akademie symbolisch zu stützen. Die Gründung diente also der Konsolidierung des Nationalstaats und nicht der Profession, wie dies in London und in Paris der Fall gewesen war.
Schlagworte:
Alexander Dallas Bache, Francis Lieber, (United States) National Academy of
Sciences, Nationalakademie, Sezessionskrieg, amerikanischer Bürgerkrieg, USA,
Professionalisierungstheorie, Wissenschaft, Briefanalyse
Axel Fehlhaber, Detlef Garz,
Sandra Kirsch
‚Wie ich Nationalsozialistin wurde‘. Erste Annäherung an eine Typologie
weiblichen Engagements in der
nationalsozialistischen Bewegung auf Basis der Abel-Collection
Der
Beitrag resümiert erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur politischen
Sozialisation früher NSDAP-Parteianhänger. Auf der Basis
objektiv-hermeneutischer Rekonstruktionen autobiographischer Texte, die 1934 im
Rahmen eines wissenschaftlichen Preisausschreibens verfasst wurden, geht der
Artikel unter Konzentration auf weibliche Parteimitglieder der Frage nach, wie
Frauen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Generationen sich für
die ‚Bewegung’ engagierten, wie sie ihr Engagement vor dem Hintergrund ihrer
Biographie darstellen und begründen und welche Bedeutungen des
Nationalsozialismus für ihr Selbst- und Weltverständnis sich daraus
rekonstruieren lassen.
Schlagworte: Nationalsozialismus, historische Biographieforschung, politische Sozialisation
Ronald Hitzler
Observation und Exhibition. Vom Leben im elektronischen Panoptikum
Bezüglich des Verhältnisses von Observation und Exibition in der medienbeherrschten Gegenwart wird gezeigt, dass neben dem strafarchitektonischen Panoptikum als Disziplinierungsinstrument ein Panoptikum existiert, das sich an der Tradition des Kuriositätenkabinetts orientiert. Das Sinnbild dieses Panoptikums ist nicht das Benthamsche Gefängnis, sondern die Peep-Show. Es ist gekennzeichnet durch die Umkehr der Beobachtungsverhältnisse: Anders als im Disziplinarpanoptikum steht der zu Beobachtende im Zentrum und verhält sich so, als verdiente er ständige Aufmerksamkeit. Der konstatierte Trend zum technisch avancierten Strom bewegter Selbst-Bilder korreliert mit einem fast epidemischen Hang zur Selbstdarstellung in Form eines „multimedialen Exhibitionismus“. Diese gesellschaftsdiagnostische These wird anhand von drei markanten Entwicklungen illustriert: 1) Die zunehmende staatliche Überwachung durch Kameras im öffentlichen Raum werde heute kaum mehr als Eingriff in die freiheitlichen Bürgerrechte wahrgenommen. 2) Die visuelle Überwachung, die neben eine Ausdehnung auf kommerzielle und private Einrichtungen erfahren hat „privatisiert“ sich. 3) Der Erfolg von YouTube und Webcam-Livestreams zeugt vom wachsenden medial vermittelten Drang zur Selbstdarstellung und Exhibition mit dem Ziel, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. An die Stelle von Überwachungsangst und Verteidigung der Privatsphäre tritt eine strategische Selbstdarstellungslust, deren paradoxe Folgen unser privates Leben immer mehr zum Gegenstand öffentlicher ‚Anschauungen‘ machen.
Schlagworte: Selbstdarstellung, Überwachung, Beobachtung, Privatheit, Öffentlichkeit, Medien