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ISSN 1439-9326

Heft 2-2004

Microscopic Examination

Anselm Strauss
Analyse mittels eines mikroskopischen Verfahrens

Die mikroskopische Analyse dient dazu, relevante Dimensionen systematisch zu identifizieren, Kategorien und Subkategorien in einen Zusammenhang zu bringen und die subtileren Aspekte der Kausalität aufzuspüren.

Bruno Hildenbrand
Gemeinsames Ziel, verschiedene Wege: Grounded Theory und Objektive Hermeneutik im Vergleich

Ein Vergleich zwischen den beiden sozialwissenschaftlichen Methodologien Grounded Theory und Objektive Hermeneutik verweist auf zwei Seiten soziologischen Fragens: die Strukturiertheit sozialer Interaktion und deren Strukturierung. Insofern scheint die Integration beider Ansätze fruchtbarer als die Konstruktion von Gegensätzen. Dies wird am Vergleich der mikroskopischen Analyse in der Grounded Theory einerseits, der Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneutik andererseits demonstriert.

Allgemeiner Teil

Jörg Michael Kastl
Habitus als non-deklaratives Gedächtnis – zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Soziologie

Ausgehend von der Beobachtung eines zunehmend naturalistischen Verständnisses des Habitus in Bourdieus Spätschriften werden eine Reihe von Konvergenzen des Habituskonzepts mit empirischen Befunden der modernen neuropsychologischen Gedächtnisforschung heraus gearbeitet. Besonders relevant sind hier Forschungsbefunde zu so genannten nicht-deklarativen Gedächtnisleistungen, die u. a. im Rahmen klinischer Studien im Bereich der Amnesieforschung gewonnen wurden. Diese belegen, wie auch von Bourdieus Habitustheorie postuliert, eine funktionale Eigenständigkeit nicht-reflexiver Formen der Intentionalität auf experimentellen Wege. Der Beitrag plädiert für die Entwicklung einer interdisziplinären Forschungsperspektive und Begriffsbildung. Eine solche Neujustierung von Horizonten hätte auch Konsequenzen für eine Reihe von Problemen der soziologischen Grundlagentheorie und das wissenschaftliche Selbstverständnis der Sozialwissenschaften im Gefüge der erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen.

Volker Fürst
Politik als Berufung: Hagiographischer Diskurs in der politischen Biografie von Franz-Josef Strauß

Wie wird politische Herrschaft in modernen Gesellschaften mit religiösen Elementen und Motiven implizit oder explizit diskursiv gestaltet, inszeniert und gerechtfertigt? Nicht eine begriffsgeschichtliche Darstellung des religiösen Ursprungs politischer Begriffe, sondern die Analyse einer diskursiven Praxis, die zur Rechtfertigung von politischer Herrschaft und Herrschaftspraxis dient, soll dies exemplarisch an der politischen Biografie von Franz-Josef Strauß beantworten. In einem textinterpretativen Verfahren wird hierzu die Biografie insbesondere nach religiös konnotierten Begriffen, Motiven und Erzählmustern abgesucht. Im Bereich des politischen Inszenierung und Kommunikation können sich das Heilige, das Charismatische und das Profane kreuzen und vermischen; gerade im Zeichen einer "rationalistischen" Moderne bricht das Heilige - das für das Politische als überwunden gilt - in das Profane auf oft unerkannte Weise hinein und taucht als ein symbolisches Bezugssystem für politische Herrschaft auf. In der politischen Biografie von Franz-Josef Strauß tauchen hagiographische Elemente und legendarische Deutungsangebote als Subtext auf, die der darin abgebildeten Person und ihren Handlungen die Züge des Heiligen verleihen. Dieser Subtext, seine narrativen Strukturmerkmale und Symbole stellen einen ,hagiographischen Diskurs' dar. Allerdings wird hier empirisch das Feld nur explorativ erschlossen und die These des ,hagiographischen Diskurses' plausibilisiert sowie die Fruchtbarkeit des theoretischen Zugangs exemplarisch belegt.

Andreas Gruschka
Gemälde als Ausdrucksgestalten des sozialen Sinns von Erziehung. Bericht über einen Versuch, den Erkenntnisgehalt pädagogischer Bildweiten von der Renaissance bis zur Moderne an den genauesten Beobachtern unter den Künstlern zu rekonstruieren

In der historische Bildungs- und Sozialisationsforschung gelten, auch dort, wo sie Quellen zur Genese und Geltung pädagogisch geprägter Umgangsformen auslegt, Bilder nur selten als genuine Medien, um historisch gewachsene Problemlagen zu untersuchen. Die Arbeit berichtet aus einem größeren Projekt, mit dem die pädagogische geprägten Bildwelten von der Renaissance bis zur Romantik unter der Frage untersucht werden, welche Einsichten die avancierte Maler zum Problem der Erziehung gewonnen haben. Dabei wird die These verfochten, dass zu allen Epochen der Neuzeit jeweils ein Maler sich in besonders pointierter Weise mit dem Thema beschäftigt hat. In der Renaissance Paolo Veronese, im Barock Jan van Steen, in der Aufklärung J. B. Chardin und in der Romantik Ph. O. Runge. An drei Beispielbildern wird die These durch eine materiale Analyse der Bilder als Ausdrucksgestalten der Familienerziehung plausibilisiert.

Matthias Jung
Befreiung vom Begriff oder zum Begriff? Marginalie zu einer Fehlleistung Adornos beim Zitieren Hegels

In einer 1965 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie veröffentlichten "Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität" unterläuft T. W. Adorno beim Zitieren Hegels eine Fehlleistung in Gestalt einer Wortvertauschung. Diese wirkt zwar zunächst unscheinbar, in ihr kommt aber bei genauerer Betrachtung verdichtet Adornos problematische Rezeption des Hegelianischen "Begriffs" zum Ausdruck, die wiederum für seine Deutung des Verhältnisses von Individuum und gesellschaftlicher Objektivität in der Theorie Hegels folgenreich ist.

Zeitzeichen

Herfried Münkler
Die Privatisierung des Krieges

Der Beitrag beschäftigt sich mit Tendenzen der Privatisierung der Kriegsführung. In weiten Teilen der so genannten Dritten Welt sind im Gefolge der Auflösung der staatlichen Ordnung Bandenkriege zu beobachten, die nicht auf die Bildung einer sozialen Ordnung hinauslaufen, sondern in denen Warlords auf eigene Faust und eigene Rechnung Krieg zu ihrem Geschäft gemacht haben. Daneben zeigen moderne Staaten die Tendenz zum Outsourcing kriegsrelevanter Leistungen (Private Military Companies; PMCs). Diese Privatisierungsstrategie führt aber zu einem staatlichen Kontroll- und Verantwortlichkeitsverlust. Beide Entwicklungen könnten in ein Horrorszenario zukünftiger Kriege münden, in dem militärische Konflikte an Warlords und PMCs delegiert sind.