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ISSN 1439-9326

Heft 3-2004

Rekonstruktive Bildungsforschung

Hans Oswald
Demütigungen und Statuskämpfe auf einer Klassenreise

Dieser Aufsatz handelt davon wie sich Kinder einer fünften Grundschulklasse demütigen, wie sie sich gegen diese Bedrohungen des Selbst wehren und wie diese erlittenen Herabsetzungen mit sozialem Status zusammenhängen. Die Daten stammen aus einer qualitativen Studie, in der zwei Forscher zwei Wochen lang 32 Kinder in einem Schullandheim beobachteten. Die Interpretation der Szenen zeigt, dass Demütigungen und Degradierungen Verletzungen des Selbst bedeuten, die von den meisten Kindern situations-und personenabhängig mit oft heftiger Gegenwehr beantwortet werden. Betroffen sind vor allem statusniedrige Jungen, die versuchen, sich über andere zu erheben, und deren aggressive Akte oft als verständliche Reaktionen auf Ehrverletzungen gedeutet werden können. Statushohe Kinder beteiligen sich an diesen Prozessen, um die bestehende Statusstruktur zu sichern. Bei Bedrohung ihrer gehobenen Stellung bilden sie Koalitionen selbst über die Geschlechtsgrenze hinweg zur Abwehr von Emporkömmlingen.

Hansjörg Sutter
Entwicklungsorientiertes Fallverstehen. Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit

Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung unterstellt, von affektiven Faktoren der Urteilsbildung abstrahieren und kognitive Strukturen sozialen Verstehens und moralischen Urteilens diagnostisch im Sinne eigenständiger Entwicklungsdimensionen unterscheiden zu können. Aktuelle Forschungsbefunde legen eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Stufentheorie Kohlbergs nahe oder stellen stufentheoretische Konzeptualisierungen in der Kohlberg-Tradition prinzipiell in Frage. Dies zeitigt weitreichende Folgen für das Verständnis soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse und derer methodisch kontrollierten hermeneutischen Rekonstruktion. Am Beispiel zweier Interviews aus einem Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug werden jene Analysedimensionen ausgewiesen, die eine hermeneutische Rekonstruktion biografisch vermittelter Lern- und Entwicklungsprozesse anleiten können. Primäre Analyseeinheit ist nicht das moralische Argument, sondern die soziale Situation. Methodologisch setzt dies die Berücksichtigung sequenzanalytischer Verfahrensprinzipien voraus. Anders als es das standardisierte Auswertungsverfahren der Kohlbergschule vermag, wird in der sequenzanalytischen Rekonstruktion das Zusammenspiel der handlungspraktisch und situativ relevanten Faktoren empirisch rekonstruiert. Neben der Kohlberg primär interessierenden kognitiven Strukturierung moralischer Urteile kommt damit die Aktualgenese moralischen Urteilens und Handelns ebenso in den Blick wie die soziale Situation, in der eine Person agiert.

Detlef Garz
Studium als biographische Entwicklungschance

Dieser Artikel untersucht die biographische Entwicklung von Studienanfängern in den Fächern Jura, Pädagogik, Physik und Anglistik. Die Studierenden wurden zu Beginn ihres Studiums sowie ein Jahr später befragt. Als Ergebnis werden sowohl Einzelfallstudien als auch Typen und deren Veränderungen präsentiert.

Ulrich Oevermann
Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung

Dieser Artikel entfaltet eine grundlegende, erkenntnistheoretisch begründete Kritik der quantitativen Sozialforschung und komplementär dazu eine Begründung des rekonstruktionslogischen Standpunkts der objektiven Hermeneutik. Ausgehend von der Analyse des elementaren epistemischen Akts der Prädikation wird die Frage der Geltungsbasis empirischer Forschung aufgeworfen. Deren Gegenstand sind Protokolle der Wirklichkeit, und nicht die protokollierte Wirklichkeit selbst. Das gilt für die „stochastische Welt“ (Naturwissenschaft) ebenso wie für die sinnstrukturierte Welt (Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaft). Von hier aus zeigen sich für die quantifizierende Forschung und die Logik ihrer Datenerhebung und -auswertung gravierende Probleme, die im einzelnen durchgegangen werden. In Rücksicht auf die mathematischen Verfahren der Datenauswertung wird – im Gegensatz zu „natürlichen“ Protokollen auf der Grundlage gerätevermittelter Aufzeichnungen – eine „arme“, unauthentische und letztlich unzuverlässige Protokollierung der sinnstrukturierten Welt in Kauf genommen. Diese methodische Insuffizienz bezüglich des Gegenstands kann auch durch die scheinbar formal gesicherten Operationen der Datenauswertung nicht beseitigt werden. In einem abschließenden Kapitel werden die technokratischen Implikationen der methodischen Position der „empirischen Bildungsforschung“ herausgearbeitet.

Fritz-Ulrich Kolbe
Schulentwicklungsforschung als Prozessforschung. Ein Beitrag zur rekonstruktiven empirischen Bildungsforschung am Beispiel der Einführung ganztägiger Schulangebote

Dargestellt wird eine Studie zur lokal entwickelten Einführung ganztägiger Schulangebote, die Schulentwicklungsforschung als Prozessforschung durchführt. Der erste Teil behandelt das methodische Vorgehen. Daran anschließend werden das Forschungsvorhaben und seine Ergebnisse knapp skizziert. Für die Prozesse lokaler Schulentwicklung durch Lehrer lässt sich ein Strukturmodell abstrahieren. Argumentationsmuster, Orientierungsmuster der Schulkultur, Kooperationsstrukturen und die Strukturierung des entwickelten Angebotes sind für den Prozessverlauf entscheidend. Kooperationsstrukturen, die Partizipation ermöglichen, und gemeinsame pädagogische Erarbeitung der Angebotsdurchführung werden als Bedingungen dafür deutlich, über die Fortschreibung unterrichtlicher Handlungs- und Interpretationsmuster hinaus Neues entstehen zu lassen. Als zentral für das Gelingen der Entwicklung ganztägiger Schulangebote lässt sich deshalb eine Steigerung der Professionalität und ein reflektierter Umgang mit Organisation herausstellen.

Zeitzeichen

Eike Emrich und Jens Flatau
Kaffeetrinken in Organisationen. Zur sozialen Bedeutung von Alltagsroutinen in formalisierten Arbeitsverhältnissen

Wenngleich aus soziologischer Sicht wenig beachtet, so stellt doch das Trinken von Kaffee eine für formale Organisationen unseres Kulturkreises typische Form temporärer Vergemeinschaftung dar und erfüllt als solche eine Reihe wichtiger sozialer Funktionen. Es schafft einen kleinsten gemeinsamen Nenner und ist in den verschiedensten Situationen eine mehr oder weniger verbindliche und die Kommunikationsaufnahme erleichternde Rahmenbedingung. Das (Nicht-) Anbieten einer Tasse Kaffee sowie die Art und Weise, auf welche es geschieht, transportiert als soziales Drehbuch institutionalisierte soziale Deutungsmuster. Formale Statusdifferenzen können betont oder aber infolge der entstandenen Informalität verringert werden. Ambivalenz findet sich auch in den individuellen Motiven des Konsums von Kaffee in formalen Organisationen, ist er doch legales, leistungssteigerndes Aufputschmittel und Möglichkeit zum Rückzug vom Organisationsstress zugleich. Darüber hinaus erfüllt das Kaffeetrinken, räumlich in Form einer Kaffeeküche oder Cafeteria zentriert, neben der Entlastung von der Arbeit die Funktion eines informellen Kommunikationskanals.